Dr. Heinrich Hellmuth
„Ego-Shooter“ – Ölbilder von Oliver Estavillo

I

„Ego-Shooter“ – der Titel eines hier gezeigten Bildes und zugleich der Titel dieser Ausstellung – ist ein aktueller Begriff, der bezeichnend ist für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, bezieht er sich doch auf eine neue Spielart von Gewalt: die virtuelle Gewalt brutaler Killerspiele. Wie auf dem Bildschirm der „Ego-Shooter“ genannten Videospiele zielt in diesem grandiosen Tableau das Gewehr des Spielers, mit dem er einzelne Figuren abknallen kann, auf das gewaltgeladene Geschehen. Alle haben Waffen: der Säugling im Kinderwagen ebenso wie der gebückte Greis, der sich am Rollator festhält. Dem bewaffneten Arm des Spielers in der Mitte des unteren Bildrandes korrespondiert oben eine Hand, die mit schussbereiter Pistole herab vom Himmel droht. Unwillkürlich und irritiert wird man an die Dextera Dei erinnert, die Rechte Gottes, wie sie auf mittelalterlichen Bildtafeln mit ähnlicher, allerdings segnender Gebärde hinabweist zum heiligen Geschehen. Es ist also hier die sehr moderne, zutiefst pessimistische und zeitkritische Umdeutung eines sehr alten ikonographischen Topos gegeben.

Der Schauplatz dieses Bildes ist der Münchner Gärtnerplatz, über dem ein giftig grüner und schwefelgelber Himmel mit vier Monden apokalyptisch sich wölbt. Auf dem Platz ist eine aberwitzige Menagerie grotesker Gestalten zu sehen: Unter ihnen ein Vampir in bayerischer Tracht, zwei Herren mit Pavian- und Muränenkopf sowie ein stämmiger, kahlköpfiger Transvestit in hochhackigen Pumps und rotem Röckchen. Als einziger unbewaffnet und wehrlos ist der verängstigte Clown, auf den ein anderer mit seiner Pistole zielt. Dieser trägt das Kostüm, in dem der amerikanische 30fache Serienmörder John Wayne Gacy als Pogo der Clown vor Schulklassen auftrat. Solche hintergründigen Anspielungen finden sich öfters in den Bildern Estavillos, der sich übrigens intensiv mit dem unheimlichen Phänomen der Serienmörder auseinandergesetzt hat und dessen spektakuläre Ausstellung in der Münchner Galerie Kunstbehandlung im Jahr 2000 den Titel ‚Serialkiller‘ trug. – Insgesamt 30 Beteiligte mit 36 Schusswaffen unterschiedlicher Art bevölkern nicht nur den Platz, sondern auch die Luft darüber. Neben den beiden anmutigen Cupidines mit Pfeil und Bogen sind dies Seraph, Dämon und ein geflügelter Businessman. Fast alle Bewaffneten ziehen ihre Waffe oder zielen schon, doch noch hat keiner abgedrückt. Hierzu bemerkt der Maler: „Mich interessiert das Drohpotential. Deswegen zeige ich auch nicht das Geballer.“ Doch dem Betrachter wird deutlich: Wenn der Erste zu feuern beginnt, bricht die Hölle los und der Tod wird allgegenwärtig und umfassend sein.

II

Gewalt und Tod – es sind dies zentrale Themen seiner Bilder der letzten Jahre: von der tiefsinnig absurden ‚Zerschlagung des Sensenmannes‘ bis zum düster anklagenden ‚Veteranentreffen‘. – Doch bevor wir uns seinen Themen und Gestalten näher zuwenden, wollen wir seinem Atelier einen imaginären Besuch abstatten und dem Maler bei der Arbeit zuschauen.

Beginnen wir mit der Auswahl seiner Materialien. Schon hier zeigt sich ein grundlegender Wesenszug dieses Künstlers: sein Perfektionismus und die absolute Kompromisslosigkeit in allem, was seine Bilder betrifft. Nur die besten Pinsel, Leinwände und Farben genügen seinen Ansprüchen. So verwendet er nicht etwa billiges Maltuch, sondern feines belgisches Leinen, das den Bildern Dauer verleiht, nicht einfache Acrylfarben, sondern ausschließlich die von der Traditionsfirma Schmincke hergestellten, hochwertigen Mussini-Harzölfarben.

Bei der Ausführung seiner Bilder stellt Estavillo hohe Anforderungen an sich selbst, und das gilt vor allem auch für das Handwerkliche. Den Entwurf zeichnet er mit Bleistift unmittelbar auf die Leinwand, ohne sich auf Vorskizzen zu stützen, denn bereits vor dem ersten Strich sieht er das Bild in seiner Vorstellungskraft in allen wesentlichen Teilen vor sich. In den letzten Jahren habe ich das Entstehen eines jeden Bildes miterlebt und war jedes Mal von neuem beeindruckt, mit welcher Sicherheit und in welch relativ kurzer Zeit die Vorzeichnung vollendet wurde und auch bei aufwändigen und vielfigurigen Kompositionen kaum nachträgliche Korrekturen notwendig waren. Und kein einziges Mal wurde ein Entwurf verworfen.

Als nächster Arbeitsschritt wird die Bleistiftskizze in allen Einzelheiten und mit großer Sorgfalt in schwarzer Ölfarbe ausgeführt. Es ist dies eine langwierige, mühselige Arbeit, die bei einem großen Bild einige Wochen in Anspruch nimmt. Als Estavillo wieder einmal einen ganzen Tag an den schwarzen Linien von ‚Ego-Shooter‘ malte, sagte er: „Das ist wirklich Zeitlupenarbeit.“ Als impulsiver und eher ungeduldiger Mensch zeigt er beim Malen eine unendliche Geduld und konzentrierte Akkuratesse, ja fast Pedanterie. Auch bei sehr genauer Betrachtung seiner Bilder wird man keine Flüchtigkeit oder Nachlässigkeit entdecken. – Bei aller Modernität und Zeitgenossenschaft besitzt er die Disziplin und das Arbeitsethos der Alten Meister und meinte einmal im Scherz: „Ich bin ein neuer Alter Meister.“ Wegen der sorgfältigen Ausführung dauert die Arbeit an einem Bild viele Wochen, bei großformatigen Kompositionen sogar Monate.

Seine erstaunliche Virtuosität zeigt sich auch darin, dass er für jedes Bildthema eine angemessene farbliche Gestaltung findet: So wählte er z.B. für ‚Die Verhausschweinten‘ als Hintergrund ein unschuldiges Himmelblau, vor dem um so brutaler der blutige, gehäutete Schweineschädel und die stolz emporgereckte, blutverschmierte Hand des Selbstverstümmlers mit dem Skalpell sich abzeichnen. – ‚Der Triumph der Säufergöttin‘ steigert sich in überwältigender Leuchtkraft zu einem halluzinatorischen Farbenrausch. – In ‚Mein Vater in der Hölle‘ lasten dunkle Gewölbe über der düsteren Glut, vor der die farblich subtil differenzierten Dämonen und die fahlen Gestalten der Gepeinigten sich abheben. – Ganz anders wiederum ‚Das erste Abendmahl‘. Den Mittelpunkt bildet die transzendente Lichtgestalt Christi in fast überirdischem, mystisch-transparentem Leuchten, von dem ein lichter, heller Abglanz auch auf die Gestalten der Jünger fällt, die in erdigen Farben wiedergegeben sind.

Wenn Estavillo ein Bild mit der Signatur abschließt, integriert er sie gern in das Bildgeschehen. So mit spielerischem Witz in dem Bild ‚Nur die allerdümmsten Kälber‘, dessen Signatur auf einem Bierdeckel fast versteckt wird, wobei die zwei ‚l‘ seines Namens den Strichen angeglichen sind, mit denen die konsumierten Getränke gezählt werden. In ‚Ego- Shooter‘ dagegen befindet sich die Signatur an einer zentralen Stelle, nämlich im Vordergrund auf dem Gewehr des Spielers.

III

Wenden wir jetzt den Blick vom Abschluss des Bildes zurück zu dessen Anfang: Am Anfang steht ein Einfall, die Erfindung und Wahl eines Themas. Auslösendes Moment kann ein aktuelles Ereignis oder auch ein Traum sein. In den meisten Fällen jedoch bleibt die jäh und unvermutet sich einstellende Erfindung des Bildes ein faszinierendes und letztlich unerklärbares Phänomen. Das intuitive Vorgehen Estavillos soll am Beispiel von ‚Ego- Shooter‘ kurz beleuchtet werden. An einem Sonntagmorgen kam ihm unvermittelt die Idee zu dem Bild, ohne dass er irgendeinen Anknüpfungspunkt, eine Assoziation hätte angeben können, die ihn zu diesem Einfall führte. Auch den Titel hatte er gleichzeitig gefunden.

Innerhalb weniger Minuten entwarf seine Phantasie das Bildkonzept in den wesentlichen Grundzügen, die er mir sogleich mit zahlreichen Details sehr anschaulich schilderte.

Bei ‚Ego-Shooter‘ lagen zwischen erstem Einfall und Malbeginn nur wenige Wochen. Es können jedoch auch größere Zeitspannen erforderlich sein, weil z.B. ein schon länger geplantes Bild den Vorrang hat oder auch eine Bildidee bis zu ihrer endgültigen Ausformulierung in der Imagination des Künstlers viel Zeit beansprucht. Den Langzeit- Rekord hält ‚Mein Vater in der Hölle‘, wo zwischen Bildidee und Ausführung immerhin 15 Jahre lagen. – Bei der Fülle seiner Einfälle werden nur die prägnantesten und dem Maler wichtigsten Themen realisiert.

Eine Eigenart seiner Bilder beschreibt er mit den Worten: „Ich inszeniere gerne und entwickle die beteiligten Charaktere.“ So posieren in dem witzig-ironischen ‚Philosophentraining‘ die Muskelgestalten im Scheinwerferlicht, und in ‚Testamentseröffnung‘ agieren die raffgierigen Erben direkt auf einer Bühne. In diesem „Trauerzirkus“, wie er das Bild einmal bezeichnete, zeigen sie in komischen Verrenkungen artistische Kunststücke und demonstrieren damit eine besondere Stärke des Malers: die kraftvolle Dynamik der Bewegungen.

Expressiv bewegte Szenen werden auch gestaltet in ‚Triumph der Säufergöttin‘, ‚Zerschlagung des Sensenmannes‘ oder ‚Das erste Abendmahl‘. Zugleich wird in diesen Bildern ein für ihn charakteristisches Stilmittel angewendet, das er mit folgenden Worten beschreibt: „In meiner Konzeption des Bildaufbaus soll die Bewegung wie eingefroren wirken. Mitten in der action wird die Zeit angehalten wie in einem filmstill. Deswegen sind auch einige Figuren und Teile des Interieurs angeschnitten. Das geschieht bewusst und ist ein wesentlicher Bestandteil der Bildgestaltung. Der Betrachter fragt sich, wie es zur jeweiligen Situation kam und wie es wohl weitergeht. Dieser Film soll in seinem Kopf ablaufen.“ Estavillo hat dies z.B. auch in ‚Ego-Shooter‘ umgesetzt, wo genau derjenige Moment festgehalten wird, welcher der Katastrophe unmittelbar vorausgeht.

Was an seinen Bildern wohl als erstes auffällt, sind die oft grotesken Gestalten und die anderen verblüffenden Erfindungen seiner überbordenden Phantasie. Doch daneben finden sich, was der Betrachter vielleicht nicht vermutet, sehr konkrete Details, die der Maler in seinem Streben nach Authentizität der Wirklichkeit entnommen hat. So entsprechen die Schusswaffen in ‚Ego-Shooter‘ präzise verschiedenen vorgegebenen Waffenmodellen, und für die militärischen Ausrüstungen in ‚Veteranentreffen‘ hat Estavillo bei zwei Besuchen im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt gründlich recherchiert. Die unförmige Gasmaske etwa ist ein russisches Modell aus dem Ersten Weltkrieg. Auch die Schandmasken und Folterinstrumente des Bildes ‚Vom Zauber des Mittelalters‘ sind realen Gegenständen nachgebildet, die sich im Mittelalterlichen Kriminalmuseum in Rothenburg o. T. befinden. Gerade die schockierendsten Grausamkeiten seiner Bilder hat der Künstler also unverändert aus der Realität entnommen.

Dieser brutalen Realität entgegengesetzt sind die phantastisch-surrealen Elemente seiner Bildwelt. Hier fallen vor allem die bizarren Tiermenschen ins Auge. So posieren in ‚Philosophentraining‘ Bodybuilder mit Kaninchenköpfen, und Hunde mit Menschengesichtern kläffen sich an, wobei einem sogar ein zweiter, etwas desperat blickender Kopf aus dem Rücken wächst. Unter diesen seltsamen Mischwesen erreicht den höchsten Grad des Grotesken ein Teilnehmer der ‚Testamentseröffnung‘, dem statt des Kopfes ein anatomisch korrekt gebildetes menschliches Herz auf den Schultern sitzt.

In uralte, mythologische Bereiche dringt Estavillo in ‚Minotaurensauna‘ vor. Mythologische Themen haben ihn auch schon früher beschäftigt. So schuf er Anfang der Neunziger Jahre neben den Bildern ‚Zyklop‘ und ‚Uranos‘ auch den Zyklus ‚Mythos masculin‘, unter dessen acht großformatigen Bildern sich die Gemälde ‚Ikarus‘, ‚Der König flieht‘ und ‚Gottheit‘ befinden: Darstellungen groß empfundener, archaischer Gestalten. In der 2007 entstandenen ‚Minotaurensauna‘ dagegen werden voller Witz mythologische, antikeund moderne Elemente kombiniert. Antik ist die klassische Büste an der Wand, und der unter ihr sitzende Stiermensch nimmt unverkennbar die Haltung des Barbarinischen Fauns ein. Zwar ist durch das überraschende Sujet dieses Bildes eine gewisse Ironie vorgegeben, aber davon unberührt und ungemindert bleibt die animalische Kraft und Wildheit der menschentötenden Monster, die bereits selbst durch Banderillas verwundet sind.

Für den Mythos grundlegend ist das besondere Verhältnis zur Zeit: ihre teilweise Aufhebung und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dies gilt nicht nur für ‚Minotaurensauna‘, sondern auch für andere Werke Estavillos, in denen sich ein tiefgründiges Spiel mit verschiedenen Zeitebenen ereignet. – In der grausamen Darstellung mittelalterlicher Folter- und Hinrichtungsmethoden mit dem verzweifelt-wütenden Titel ‚Vom Zauber des Mittelalters‘ trägt der mittelalterlich maskierte Scharfrichter einen modernen Anzug, und über die Todesstätte rast ein Düsenjäger. – Das Gemälde ‚Mein Vater in der Hölle‘ zeigt ein mittelalterliches Gewölbe, dessen dreigeteilter Bau die Vorstellung eines gotischen Flügelaltars evoziert. Doch einige der Verdammten sind modern gekleidet, und als ironisches Zitat aus der Science-Fiction-Welt wird einer von einem metallisch glänzenden Roboter gepeinigt. – In dem düsteren ‚Veteranentreffen‘ erscheint unter den toten Soldaten außer Ritter, Landsknecht und ordensgeschmücktem Offizier des deutschen Kaiserreiches auch als unauffälliger Hinweis auf die Gegenwart ein fast völlig verdeckter amerikanischer Irak- Kämpfer. - Das wohl überraschendste und kühnste Spiel mit verschiedenen Zeitebenen erfolgt im ‚Ersten Abendmahl‘. In vielleicht irritierender, aber keinesfalls blasphemisch gemeinter Weise werden die vor innerer Spannung fast berstenden, expressiven Gestalten von zwölf Neandertalern der unirdisch strahlenden Licht-Erscheinung Jesu beigesellt. Intuitiv berührt der moderne Künstler hier eine Frage, die mittelalterliche Theologen beschäftigte: die Frage nach dem Seelenheil der Menschen, die vor Christi Erlösungstat lebten und starben. – In dem furiosen Bild ‚Zerschlagung des Sensenmannes‘ schließlich versuchen die Toten den Tod zu töten: ein trotzig-aufbegehrendes, utopisch-absurdes Bemühen, auf solch rabiate Weise die Endlichkeit aufzuheben.

IV

Die Bilder von Oliver Estavillo sind unverwechselbar, und jedes einzelne ist auf seine besondere Weise singulär. Er ist, wie der Kunsthistoriker Detlef Trost feststellt, „keinem der üblichen Ismen zuzuordnen. Hingegen ist es ihm in den letzten Jahren gelungen, eine ganz eigene Bildsprache zu entwickeln, sowohl thematisch als auch stilistisch, und die passt in keine der vorhandenen Schubladen.“

Estavillo reagiert auf unsere Zeit mit scharfem, gnadenlosen Blick. Manchmal hebt er auch ihre unfreiwillig komischen Seiten hervor, doch daraus erwächst eine Komik, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Sein Humor ist tiefschwarz und manchmal auch bitterböse. Dieser Maler macht sich keine Illusionen. Er durchschaut die menschliche Gemeinheit und Niedertracht bis hinab zu ihren unbegreiflichen Abgründen. Er ist radikal, aber weder zynisch noch nihilistisch, vielmehr steht hinter seinen Bildern der Wunsch nach Veränderung, die tiefe Sehnsucht nach einer besseren Welt. Das konstatiert auch Prof. Fidel Rädle, dessen Urteil diese Einführung beschließen soll: „Estavillos Bilder sind wahrhaftig, tief skeptisch und Humanität einklagend. – Ich bewundere so viel Können, Kunst und Geist und bin nicht im Zweifel, dass hier einer der begabtesten, kraft- und geistvollsten Künstler dieser Tage am Werk ist.“

Dr. Hans-Heinrich Hellmuth